Henri Matisses Die Schnecke und die Schlüsselqualitäten der abstrakten Kunst
„Die Schnecke“ (1953) wurde im Jahr vor Matisse' Tod vollendet. Sie gilt als sein letztes großes „Ausschnitt“-Werk und auch als Meisterwerk. Für Matisse, der unermüdlich in seiner produktiven Schaffenskraft war, war es vielleicht nur ein weiteres Kunstwerk, etwas, das er sofort vergaß, sobald er es fertiggestellt hatte, um zum nächsten Stück überzugehen. Doch für diejenigen, die „Die Schnecke“ persönlich gesehen haben, ist es ein eindringliches, sogar unvergessliches Bild, das den Höhepunkt der modernen Abstraktion exemplifiziert. Das Stück ist etwa drei Quadratmeter groß, doppelt so hoch wie die meisten Betrachter. Es besteht aus farbigen Formen, die auf einen weißen Hintergrund geklebt sind. Jede Form ist aus einem Stück gouachefarbigem Papier ausgeschnitten. Die Formen sind in einer lockeren Spirale angeordnet – ein Ausdruck der Schale einer Schnecke. Matisse gab dem Werk auch einen zweiten Titel: „La Composition Chromatique“ oder „Die Chromatische Komposition“. Dieser zweite Titel birgt ein Geheimnis. Die meisten Schriftsteller nehmen an, dass Matisse ihn als Verweis auf die Farben beabsichtigte. Schließlich wählte er perfekt komplementäre Farbtöne für das Stück und schuf eine visuelle Komposition, die lebhaft und freudig ist. Doch während das Wort chromatisch tatsächlich oft verwendet wird, um etwas zu beschreiben, das mit Farbe zu tun hat, hat es auch eine musikalische Konnotation – ebenso wie das Wort Komposition. In der Musik umfasst eine chromatische Skala alle 12 Töne, die auf einem Standardklavier gespielt werden können. Es ist eine vollständige, allumfassende Skala. Wenn man „Die Schnecke“ betrachtet, nehmen viele Betrachter 12 Farbtöne wahr. Könnte Matisse mit diesem sekundären Titel auch auf Musik verwiesen haben? Eines ist sicher: Indem Matisse diesem Stück beide Titel zuwies, verlieh er ihm sowohl figurative als auch abstrakte Qualitäten, fügte reiche Schichten hinzu, die reif für Interpretationen sind, und machte „Die Schnecke“ zu einem idealen Kunstwerk, um die wesentlichen Eigenschaften der abstrakten Kunst zu studieren.
Das Entrollen
„Die Schnecke“ wurde 1962 von der Tate in London gekauft. Vierzehn Jahre später erhielt das Museum einen Brief von Mme Lydia Delectorskaya, einer im Exil lebenden Russin, die in den späteren Jahren Matisse' Modell, Studioassistentin und Karriere-Managerin war. Der Brief beschreibt die Entstehung von „Die Schnecke“. Er zitiert Matisse: „Zuerst zeichnete ich die Schnecke aus der Natur, indem ich sie hielt. Ich wurde mir eines Entrollens bewusst, ich fand ein Bild in meinem Geist, das von der Schale gereinigt war, dann nahm ich die Schere.“ In diesem einfachen Satz steckt eine poetische Zusammenfassung der gesamten Karriere von Matisse. Zuerst arbeitete er aus der Natur und malte figurative Bilder. Seine Nachahmung der Natur entblätterte sich dann, als er die dynamischen abstrakten Qualitäten der Farbe erkundete. Er vereinfachte, reduzierte seine Arbeiten auf gereinigte Bilder wie „Der Tanz II“ (1932), ein Wandgemälde in der Barnes Foundation in Pennsylvania, oder „Liegender Akt“ (1935), für den Mme Delectorskaya Modell stand. Schließlich „nahm er die Schere“, verwandelte seine Arbeitsweise, nachdem er festgestellt hatte, dass er nach Komplikationen durch eine Operation wegen Zwölffingerdarmkrebs nicht mehr malen konnte.
Der Ausdruck „nahm die Schere“ bezieht sich auf die Collagetechnik, die Matisse entwickelte, während er krank war. Im Rollstuhl sitzend, gab er seinen Assistenten die genauen Farben vor, die er verwenden wollte, und diese malten dann Stücke Papier in diesen Farben mit Gouache. Matisse schnitt mit der Schere in die Papiere und formte das Papier nach seiner Vorstellung. Er wies seine Assistenten an, präzise Kompositionen auf Tafeln zu schaffen, die an der Wand hingen. Diese Evolution, vom Malen zu den Cut-Outs, entstand aus der Notwendigkeit, war aber auch eine perfekte modernistische Geste, denn sie beseitigte die Falschheit, Formen zu zeichnen und dann Farbe hinein zu malen, was einen ehrlicheren Prozess ermöglichte, in dem Methode, Medium und Material eins wurden. „Die Schnecke“ wird zudem als besonders tiefgründige modernistische Aussage betrachtet, da das spiralförmige Muster auf einem Schneckenhaus, das Matisse als das „Entrollen“ bezeichnete, auf den Goldenen Schnitt verweist, eine Kompositionsstrategie, die häufig in der frühen abstrakten Kunst verwendet wird und als Ausdruck universeller Harmonie in der Natur gilt.
Farbe und Musik
Durch die Vergabe des zusätzlichen Titels „La Composition Chromatique“ an „Die Schnecke“ öffnete Matisse die Tür dafür, dass das Werk nicht nur nach seinen narrativen repräsentativen Qualitäten, sondern auch nach seinen rein formalen ästhetischen Aspekten betrachtet werden konnte. Diese Wahl war eine Anerkennung des Künstlers, dass er die Möglichkeiten, wie sein Werk von den Betrachtern interpretiert werden konnte, in beiden Richtungen akzeptierte. Es wurde von ihm in beide Richtungen wahrgenommen, und er wollte offensichtlich, dass wir unsere Gedanken für beide Perspektiven öffnen. Als einfaches, konkretes, formales Zusammenfügen von Farben und Formen betrachtet, erklärt das Werk eine Reihe von emotionalen und physischen Qualitäten, wie Jubel, Energie und Bewegung. Die Flachheit des Bildes konkurriert auf subtile Weise mit den dimensionalen Aspekten der geschichteten Papiere. Die dunklen und hellen Farbtöne erzeugen Illusionen von Tiefe.
Für diejenigen, die die musikalischen Qualitäten von „La Composition Chromatique“ betrachten möchten, ist es eine Freude, die verschiedenen Farbtöne, die in dem Werk vorhanden sind, näher zu betrachten. Wie viele Orangetöne gibt es? Wie viele Grüntöne? Es gibt 11 Formen in der Mitte des Bildes, plus den weißen Hintergrund und den orangefarbenen Rahmen, der selbst aus mindestens sieben Teilen besteht. Je nachdem, wie Ihr Gehirn Farbe wahrnimmt, könnte es bis zu 19 verschiedene Farbtöne geben. Aber die meisten Menschen sehen neun unterschiedliche Farbtöne in der Mitte, plus Weiß, plus zwei zusätzliche Orangetöne im Rahmen. Diese 12 Farbtöne schlängeln sich lyrisch um die Komposition und zollen einem weiteren großen modernistischen Gedanken Tribut: dass abstrakte visuelle Elemente der Musik ähnlich sind. All diese verschiedenen Arten, sich mit diesem Meisterwerk auseinanderzusetzen, ergeben zusammen eine Meisterklasse darin, wie man mit abstrakter Kunst interagiert. Dieses eine Ausschnitt ist Teil Malerei, Teil Reliefskulptur, Teil konkret, Teil lyrisch, Teil geometrisch, Teil figürlich und Teil abstrakt. Es ist all diese Dinge und keine dieser Dinge. In seiner Vielschichtigkeit verkörpert es das Geheimnis des Glaubens, den Matisse einst äußerte, dass „Exaktheit nicht Wahrheit ist.“
Vorschaubild: Henri Matisse - Die Schnecke, 1953. Gouache auf Papier, ausgeschnitten und auf Papier auf Leinwand montiert. 287 cm × 288 cm (112 3⁄4 in × 108 in). Modern, London. © Nachlass Henri Matisse/DACS 2018
Alle Bilder dienen nur zu Illustrationszwecken.
Von Phillip Barcio