
Simon Hantaï. Zwischen Unsichtbarkeit und der Beständigkeit der Vision
Simon Hantaï ist der Maler der Abwesenheit, Unsichtbarkeit und Rückzug. Das Wesen seiner Kunst kann in den leeren Räumen zwischen einer Farbe und einer anderen, in seinen malerischen und konzeptionellen Interstizien erfasst werden. In Hantaïs Gemälden verschwindet die schwerfällige Präsenz des Künstlers absichtlich und hinterlässt nur einen flüchtigen Glanz. Seine Kunst ist hauptsächlich im Bereich der Abstrakten und Informellen Kunst bekannt, wenn auch mit einem persönlichen Stil, der durch tiefgehende konzeptionelle Forschung und Techniken seiner Erfindung gekennzeichnet ist, wie dem bekanntesten pliage.
1922 in Ungarn geboren, aber als naturalisierter französischer Staatsbürger, studierte Hantaï an der Ungarischen Akademie der Bildenden Künste in Budapest, wo er offen den Antinazi-Kampf unterstützte und sich als bekennender Kommunist outete. Seine künstlerische Karriere wurde stark von seinen Reisen beeinflusst: zuerst in Italien, auf den Spuren einer modernen Grand Tour, wo er von der hieratischen Ikonographie der byzantinischen Kunst in Ravenna und dem formalen Gleichgewicht der Renaissance verzaubert war, dann in Frankreich, wo er sich 1948 endgültig niederließ.
Hundert Jahre nach seiner Geburt widmet die Fondation Louis Vuitton ihm eine groß angelegte Retrospektivausstellung in Paris, kuratiert von Anne Baldassarri mit Unterstützung der Familie Hantaï. Die Ausstellung verfolgt den vielschichtigen kreativen Weg des Künstlers, der durch verschiedene formale und technische Phasen gekennzeichnet ist, die einen ständig wechselnden Gedankenfluss implizieren. Übergänge von einem Stil zum anderen geschehen nie zufällig: Sie verkörpern intellektuelle Reflexionen. Aus diesem Grund übersteigt sein Erbe die Grenzen der Malerei und hinterlässt Echos in zahlreichen abstrakten Künstlern und bezieht auch die Philosophie mit ein.
Von Surrealität zu Abstraktion
Der Umzug nach Frankreich im Jahr 1948 war entscheidend für den jungen Hantaï. In Paris lernte der ungarische Maler bald die Gruppe der Surrealisten kennen. Besonders seine Begegnung mit dem Dichter André Breton brachte ihn den innovativen Konzepten des Automatismus näher. Das Zeichnen von Worten und Bildern ohne das Eingreifen der Vernunft, völlig instinktiv oder durch willkürliche Kriterien, ließ die verborgenen Bilder des Unbewussten hervortreten, frei von der "Diktatur der Logik." Hantaïs frühe Gemälde waren in der Tat figurative einirische Gemälde.
Allerdings gab der Maler 1955 bald den figurativen Stil auf und wandte sich einer frühen Form der experimentellen gesturalen Abstraktion zu. Der Übergang war für ihn keine widersprüchliche Zäsur. Der Maler erfasste die gestische Spontaneität des Surrealismus und wandte automatische Techniken wie Frottage, Schaben oder Dekalcomanie an und konzentrierte sich auf eine Kunst, die frei von den Vorurteilen des Künstlers war. Dieser Wandel wurde auch durch die bahnbrechende Entdeckung von Jackson Pollocks abstraktem Expressionismus beeinflusst, der ihn näher zu einer mehr lyrischen abstrakten Kunst brachte. Darüber hinaus behielt er neben zeitgenössischen Referenzen auch den Einfluss der Kunst der Vergangenheit, wie der byzantinischen, bei. Hantaïs Gemälde der 1950er Jahre waren wahrhaft kultivierte Medien: Sie verkörperten Echos vergangener und gegenwärtiger Kulturen und kombinierten neue und alte Gesten.
Simon Hantaï. Die Hundertjahrfeier-Ausstellung in der Louis Vuitton Stiftung. Paris, Frankreich. 2022. Installationsansicht
Die Räume zwischen den Falten
Die 1960er Jahre prägten Simon Hantaïs Karriere erheblich mit der Erfindung der pliage-Technik. Pliage war eine neue Arbeitsmethode, die das Knoten, Falten und Zerknittern von Stoffen umfasste, um verschiedene Konfigurationen auf der Leinwand entstehen zu lassen. Die durch Pliage entstandenen Kunstwerke wurden 1967 mit der von dem Kunsthändler Jean Fournier kuratierten Ausstellung gewürdigt. Zwischen 1960 und 1982 produzierte Hantaï jeweils acht Serien, wie Mariales (Marianische Malereien) und Panses, die jeweils unterschiedlichen Verfahren entsprachen, und wandte seine Technik sogar auf Wandmalereien an. Seine Praxis ist stets durch Serialität gekennzeichnet, als eine kontinuierliche Suche nach prozeduraler Objektivität. Betrachtet man Hantaïs Kunstwerke, die aus Falten und weißen Abwesenheiten zum Leben erwachen, denkt man plötzlich an Henri Matisses gouachefarbene Papierschnitte, die Tänze von Räumen und Formen schufen.
In den 1970er Jahren nimmt der pliage-Prozess strukturiertere Formen und regelmäßige Muster an. Dies ist der Fall bei der Blancs-Serie (1973-1974) und den bekannteren Tabulas, aus dem lateinischen Wort tabula (Tisch), Gitter aus einfarbigen Quadraten, die durch einheitliche, unbemalte Flächen getrennt sind. Im Kontakt miteinander erzeugt das Muster einen optischen Effekt von irisierenden Farben, dank des Phänomens der retinalen Persistenz. Unsere Augen registrieren den Kontrast zwischen den intensiven Farben und den weißen Bereichen, die einen getönten Halo ausstrahlen. In den Lilas-Gemälden beispielsweise erzeugt das kühle Weiß der auf die wärmeren weißen Leinwand aufgetragenen Acrylfarbe eine überraschende lilafarbene Färbung. Die Tabulas-Serie kann somit als optisches Experiment betrachtet werden, um das Sehen zu trainieren und Farben selbst in ihrer tatsächlichen Abwesenheit wahrzunehmen: eine Übung im Sehen und Verstehen von Unsichtbarkeit.
Simon Hantaï. Die Hundertjahrfeier-Ausstellung in der Louis Vuitton Stiftung. Paris, Frankreich. 2022. Installationsansicht
Der verschwindende Maler
In den 1980er Jahren wurde Hantaï zunehmend unsichtbar: Er verwendete leichtere und dünnere Medien; er schuf Kunstwerke mit definierten, aber flüchtigen Grenzen, und er wurde zu einer schwer fassbaren und unerreichbaren Präsenz. Im Sommer 1982 vertrat der Maler offiziell Frankreich auf der 40. Biennale von Venedig. Die Veranstaltung, anstatt ihn zu galvanisieren, distanzierte ihn dauerhaft von der Kunstwelt und führte dazu, dass er sich ins Privatleben zurückzog. Hantaï erkannte das Risiko, dass Kunst zu einem bedeutungslosen Spektakel wird, und fürchtete eine geruchsintensive Kunst, in der die Geste des Malers die Leinwand dominiert. Stattdessen war seine Malerei eng mit den kognitiven Mechanismen von Vision und Denken verbunden. Es ist dieser stark theoretische Unterton, der ihn oft dazu führte, mehr mit Philosophen als mit anderen Malern, wie Derrida, Nancy und Deleuze, zu verbinden.
Hier liegt die Modernität von Hantaï: Er schuf Kunst, die sich wie abstraktes Denken verhält. Sein Erbe hallte danach weiter, wie in den minimalistischen Gemälden von Michel Parmentier oder in den irisierenden Gittern von Daniel Buren. Trotz seines Verschwindens als Künstler aus der Kunstszene prägten Simon Hantaïs immaterielle Farben das visuelle Gedächtnis der Künstler der folgenden Generationen: wie ein irisierender Halo, der auf der Leinwand und in unseren Netzhäuten verweilt.
Simon Hantaï. Die Hundertjahrfeier-Ausstellung in der Louis Vuitton Stiftung. Paris, Frankreich. 2022. Installationsansicht
Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung von IdeelArt.